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Lühr Henken *)

Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde,

Seit dreieinhalb Jahren tobt der Ukrainekrieg. Er hat Hunderttausende Tote und Vermisste auf beiden Seiten gekostet und Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer vertrieben. Er ist zum Zermürbungskrieg geworden, in dem der gewinnt, der über die meisten Ressourcen an Soldaten und Kriegswaffen verfügt. Russland kämpft sich mit zunehmender Geschwindigkeit seit etwa zwei Jahren langsam von Ost nach West vor. Die meisten Prognosen sehen Russland als zukünftigen Sieger.

Russland hat der Ukraine Anfang Juni ein Memorandum überreicht. Dieses sieht Vereinbarungen vor mit einem Zeitplan. Am Ende des Zeitplans steht ein Friedensvertrag zwischen Kiew und Moskau. Seine wesentlichen Inhalte sind: Anerkennung des Beitritts der Krim, der Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporoschje zur russischen Föderation, die Neutralität der Ukraine, Festlegung von Obergrenzen nach Abrüstung der ukrainischen Streitkräfte, keine Atomwaffen in der Ukraine, keine ausländischen Truppen und deren Infrastruktur, keine Waffenlieferungen an die Ukraine, „Auflösung nationalistischer Formationen“, gegenseitiger Verzicht auf Reparationen.

Vor Beginn des Waffenstillstands unterzeichnen beide Seiten ein verbindliches Memorandum, das den zeitlichen Ablauf vom Beginn des Waffenstillstands bis zum Friedensvertrag festlegt. Und vor Beginn des Waffenstillstands muss Kiew das Kriegsrecht aufheben. Dann folgen ein gleichzeitiger Beginn einer 30 tägigen Waffenruhe, an dessen Ende die ukrainischen Truppen aus allen vier Regionen abgezogen sein müssen. 100 Tage nach Aufhebung des Kriegsrechts finden Wahlen in der Ukraine statt. Danach soll der Friedensvertrag zwischen Moskau und Kiew unterzeichnet werden. Der UN-Sicherheitsrat soll diesen per Resolution völkerrechtlich verbindlich machen.

Das bedeutet, würde die Ukraine diesem Angebot sofort zustimmen, wäre der Krieg binnen weniger Tage beendet. Es liegt also in der Hand der Ukraine und seiner europäischen Unterstützer diesen Krieg zu beenden.

Jedoch lehnen diese das russische Angebot ab. Das sei ein Diktatfrieden. Sie wollen nicht kapitulieren. Sie stellen eigene Bedingungen dagegen, die wiederum aus russischer Sicht unannehmbar sind. Die Bedingungen sind: kein Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft und Fortsetzung von Waffenlieferungen an die Ukraine und das bei gleichzeitigem Waffenstillstand. Damit es nicht zu einer späteren Fortsetzung des Krieges kommt, so ihre Logik, fordern sie, Truppen aus NATO-Ländern in der Ukraine – von bis zu 200.000 Soldaten ist die Rede – zu stationieren und die Ukraine aufrüsten zu dürfen.

Diese Forderungen stehen einem Friedensschluss diametral entgegen. Denn Russland führt diesen Krieg, um eben die Aufnahme der Ukraine in die NATO abzuwenden. Russland will verhindern, dass die NATO ihre Stationierungsräume für Panzer und Raketen an Russlands Südgrenze erweitert. Dies wäre für Russlands Sicherheit existenziell bedrohlich, so wie russisches Militär in Mexiko und Kuba für die USA bedrohlich wäre.

Die europäische Unnachgiebigkeit bedeutet, dass der Zermürbungskrieg unvermindert weitergeht.

Welches strategische Ziel verfolgt die sogenannte Koalition der Willigen damit?

Sie sagt, sie wolle Russland für seine Aggression nicht belohnen. Russland dürfe nicht gewinnen. Das heißt, die Europäer wollen das russische Vordringen auf ganzer Linie stoppen und Russland möglichst wieder zurückdrängen. Russlands Wille soll auf dem Schlachtfeld gebrochen werden. Das bedeutet, man will Russland zwingen, seine Ressourcen weiter in die Kriegsmaschinerie zu stecken. Das soll Russlands Wirtschaft über kurz oder lang schwächen, in der Hoffnung, dass sie unter der Kriegslast zerbricht und es in Russland zu Aufständen kommt, die eine prowestliche Regierung hervorbringen.

Ich lese den Aufrüstungskurs von EU und europäischen NATO-Staaten nicht anders, als dass er diesem Ziel dient.

Vor einem Jahr haben sie das Märchen erfunden, dass Russland die NATO angreifen könnte und zwar nach Ende des Krieges in der Ukraine. Man setzte dafür das Jahr 2029 in die Welt, obwohl niemand weiß, wann dieser Krieg beendet sein wird. Kriegstüchtig sollte Deutschland als Teil der NATO bis dahin sein, um Russland von dieser Untat abzuschrecken.

Dass, was wir Friedensbewegten schon seit langem sagen, fand ich vor Kurzem, versteckt in einem längeren Aufsatz in der Neuen Zürcher Zeitung, bestätigt. Russland fehlen schlicht die Ressourcen für einen Angriff auf ein NATO-Land. Ich zitiere aus der NZZ: „Der militärische Vergleich zu Russland fällt schon unter den heutigen Umständen zugunsten Europas aus. Die mobilisierbaren Kräfte sind dreieinhalbmal so gross wie die Russlands. Die Truppenstärke ist schon jetzt höher. Mit Ausnahme von Atomwaffen hat Europa gegenwärtig ein Übergewicht an Militärgerät: zweifach bei den Flugzeugen, dreifach bei Panzern, um nur zwei Beispiele zu nennen. […] Für einen konventionellen Angriff wird geschätzt, dass der Angreifer mindestens ein dreifaches Übergewicht haben muss, über das Russland nicht verfügt. Ein militärischer Überfall auf die NATO wäre für Russland schon jetzt Selbstmord.“ Soweit die NZZ vom 13.8.25.

Diese und andere Expertisen machen deutlich, dass es sich bei der behaupteten Bedrohung durch Russland um eine Lüge handelt. Es gibt keine Bedrohung.

Wegen Russland ist also eine Aufrüstung in Europa nicht nötig.

Wenn die Dinge so offensichtlich sind, warum wird uns diese Wahrheit vorenthalten?

Angst vor Russland zu schüren, ist ein seit vielen Jahrzehnten probates Mittel, um eine Begründung für die eigene Aufrüstung zu kreieren. Diesmal ist es die Aufrüstung Europas, die Macron und Merkel schon 2017 mit ihren sehr kostspieligen Jahrhundertprojekten für die Luftwaffe FCAS und das Heer MGCS auf den Weg gebracht haben. Unter deutsch-französischer Führung soll sich so in 15 bis 20 Jahren eine militärische Weltmacht Europa herausbilden.

Gelder dafür werden in großem Stil freigegeben: Statt 2 Prozent wie im letzten Jahr strebt die Bundesregierung an, 2029 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung für die Bundeswehr auszugeben. Im Jahr 2035 sogar 5 Prozent. Ein Prozent kommt jeweils aus dem Haushalt, der Rest ist auf Pump. Die Schulden müssen verzinst zurückgezahlt werden. Das sind Beträge, die sich bis 2035 auf grob geschätzt 1.500 Milliarden Euro auftürmen.

Konkrete Pläne für die Schuldentilgung gibt es nicht. Kanzler Merz fordert den Sozialabbau. „Wir müssen ran an die sozialen Sicherungssysteme“, sagte er und kündigt „schmerzhafte Entscheidungen“ und „Einschnitte“ an. Es sprudelt nur so an Ideen, wo wir Bürgerinnen und Bürger geschröpft werden könnten:

Beim Bürgergeld, durch die Erhöhung von Pflegebeiträgen und Renteneinzahlungen, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, Weg mit der Rente mit 63, durch Steuererhöhungen, weniger Rente, längere Wochenarbeitszeit, weniger Feiertage, schlechtere Gesundheitsversorgung, einen „Boomer-Soli“ und zu guter letzt durch ein verpflichtendes soziales Jahr für Rentnerinnen und Rentner. Danke schön auch.

Wenn wir uns nicht dagegen wehren, wird all das und noch viel mehr über uns kommen.

Hinzu kommt die Militarisierung der Gesellschaft: eine Verdopplung der Soldatenzahl, damit einhergehend die Einführung der Wehrpflicht, der weitere Einzug von Militärforschung an Hochschulen und die Militarisierung des Gesundheitswesens.

Bundeswehr und Rüstungsindustrie sind einem Rüstungsrausch verfallen. Die Forderung nach Taurus-Lieferungen an die Ukraine flackert immer wieder auf und auch das deutsche Streben nach einer europäischen Atombombe wird systematisch vorangetrieben. Die Entscheidung, ob die US-Mittelstreckenraketen im nächsten Jahr nach Deutschland kommen, wird demnächst erwartet. Die Einführung der Erstschlags- und Enthauptungsschlagwaffe Dark Eagle gegen Moskau wird die Spannungen zwischen Russland und Deutschland drastisch steigern.

Anders als von Regierungsseite behauptet dient dieser Rüstungswahn also nicht der Verteidigung, sondern die Europäer mit Deutschland an der Spitze fordern die Atommacht Russland militärisch heraus. Sie bedrohen Russland existenziell und setzen eine Eskalationsspirale in Gang, die Russland zu Gegenmaßnahmen provoziert. Die Kriegsgefahr steigt.

Dem kann nur durch Verhandlungen begegnet werden, sonst rasseln wir in einen Atomkrieg hinein. Die Konfliktlösung geht nur über Verhandlungen.

Die Gespräche über die Zukunft der Ukraine müssen mit Abrüstungsverhandlungen in Europa verknüpft werden. Diese müssen zu Rüstungsobergrenzen auf möglichst niedrigem Niveau führen und Zonen verminderter Militarisierung definieren, um damit Truppen- und Waffenkonzentrationen zu verhindern.

Deshalb: Ja zu Friedensfähigkeit! Nein zu Kriegstüchtigkeit!
Ja zu Abrüstung, Diplomatie und Demokratie! Nein zu Hochrüstung und Kriegsvorbereitung!

Ich wünsche uns einen anregenden, kämpferischen und erfolgreichen Antikriegsmarkt. Danke

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* Lühr Henken, ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Mitglied des Personenbündnisses ‚Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder!‘, Herausgeber der Kasseler Schriften zur Friedenspolitik und arbeitet mit in der Berliner Friedenskoordination