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Krefeld, Seidenweberhaus, 25. Oktober 2025

 
Lühr Henken*
 

Liebe Ingrid, lieber Achim, ganz herzlichen Dank für die Einladung.

So lerne ich diesen Geburtsort des von fünf Millionen Menschen unterschriebenen Krefelder Appells auch mal kennen. Ein Appell, der eine schwere Geburt war.

Nach dem schockierenden und beängstigenden sogenannten Doppelbeschluss der NATO am 12.12.1979 setzte eine Diskussion in einer bis dahin schwachen Friedensbewegung ein. Diese war in zwei politisch-ideologische Lager gespalten. Das eine befürwortete die „Friedliche Koexistenz“ zwischen Kapitalismus und real existierendem Sozialismus und strebte ein Bündnis von Arbeiterbewegung und Friedensbewegung an. Dazu zählten das Komitee für Frieden und Abrüstung KOFAZ, DFU und DKP. Das andere, eher christlich und sozialdemokratisch orientiert, suchte, trotz antikommunistischer Vorbehalte, die Zusammenarbeit mit dem KOFAZ-Lager. Eine dritte Formation, die sich aus dem Kampf gegen AKW speiste und sich über eine Blockunabhängigkeit definierte, gab mit ökopazifistischem Credo der Zusammenarbeit ihre Würze.

Das Gemeinsame aller formulierte der Einladungskreis mit Gerd Bastian, Petra Kelly, Martin Niemöller, Helmut Ridder, Christoph Strässer, Gösta von Uexküll und Josef Weber für das Treffen hier im Haus: „Die Situation erscheint uns so dringlich, dass wir bisherige Vorbehalte im Gespräch zurückstellen sollten. Denn der Atomtod bedroht uns alle gleichermaßen.“ Knapp 1.000 Friedensbewegte aller Couleur folgten dieser Einladung und versammelten sich hier am 15. und 16. November 1980. Sie beschlossen einen von Gerd Bastian verfassten Grundlagentext, aus dem ein Kernsatz den Appell bildete: Ich schließe mich dem Krefelder Appell an die Bundesregierung an, die „Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen.“ Das brachte es auf den Punkt.

Die Initiativen schossen wie Pilze aus dem Boden, auch berufsbezogene. Das Sammeln brachte 800.000 Unterschriften schon nach einem halben Jahr. Erster emotionaler Höhepunkt war die überraschend große Demonstration im Bonner Hofgarten am 11. Oktober 81 mit 300.000 Teilnehmer:innen. Anlässlich des ersten Jahrestags des Appells kamen am 21.11.81 15.000 Menschen in die Dortmunder Westfalenhalle. Da waren es schon mehr als zwei Millionen Unterschriften. Die fünf Konzerte der „Künstler für den Frieden“ schufen weitere unvergessene Momente. 200.000 kamen am 11.9.82 ins Bochumer Ruhrstadion und erlebten Auftritte von Harry Belafonte und 200 anderen Künstler:innen. Zuvor kamen in West-Berlin am 9. Mai 82 25.000 in die Waldbühne. Jutta Kausch, die gleich zu uns singen wird, hat die Veranstaltung damals moderiert. Den historischen Höhepunkt schufen die gleichzeitigen vier Demos in Bonn, West-Berlin und Hamburg sowie die Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm am 22. Oktober 83. Sie brachten 1,3 Millionen Menschen auf die Straße. Das hat es vorher und nachher nicht gegeben.

Das, was  hier so leichtgängig und erfolgreich daher zu kommen scheint, war alles andere als leicht. Die Unterschriftensammler:innen hatten vielfältige ideologische Hindernisse zu überwinden. Denn der von SPD-Kanzler Helmut Schmidt lancierte sogenannte NATO-Doppelbeschluss kam als gute Tat daher: Als Verteidigungsmaßnahme gegen neue Mittelstreckenraketen der Sowjetunion, SS-20, die seit 1976 aufgestellt wurden. Reagan taufte die Sowjetunion das „Reich des Bösen“, wo die atomare Bedrohung lauert. Die NATO forderte den Abbau der SS-20. Falls das nicht geschehe, drohte sie an, US Mittelstreckenwaffen Pershing II und Marschflugkörper Tomahawk in Westdeutschland und vier anderen Ländern West-Europas aufzustellen. Deshalb kursierte der Begriff Nachrüstungsbeschluss. Immerhin: Die NATO zeigte sich darüber verhandlungsbereit.

Eigentlich hätte die Abrüstung der SS-20 doch für die Sowjetunion eine leichte Übung sein können. War`s nicht, denn die so genannte Nachrüstung war eine Lüge. Es gab keine sowjetische Bedrohung, die durch NATO-Nachrüstung hätte ausgeglichen werden müssen. Die ca. 400 SS-20 sollten treffungenaue 600 SS-4 und 100 SS-5 aus den 50er Jahren ersetzen, deren Haltbarkeitsdatum überschritten war. Die treffgenaueren mit je drei Nuklearsprengköpfen ausgestatteten SS-20 setzten dem neuen französischen und britischen Nuklearpotential etwas entgegen und auch den zuvor von den USA in Schottland stationierten U-Booten mit erstschlagfähigen Poseidon-Raketen. Von denen haben wir Friedensbewegten leider erst viel später erfahren.

Bald jedoch stellte sich heraus, dass die Pershing bereits seit 1969 und die Marschflugkörper seit 1967 geplant waren, also gar nichts mit den SS-20 zu tun hatten. Insbesondere der Charakter der Pershing II ließ aufhorchen: 108 ballistische Raketen, in Deutschland stationiert, die mit speziell gehärtetem Sprengkopf, tief im Erdreich verbunkerte Ziele zerstören sollten und das mit atomaren Sprengladungen, die bis zum Sechsfachen der Hiroschimabombe reichten.

Die Pershing II wurde als Enthauptungsschlagwaffe konzipiert und ihre Einsatzplanung in die US-Doktrin übernommen. Durch die totale Zerstörung der sowjetischen Kommandostruktur sollte zudem dessen nuklearstrategische Zweitschlagskapazität möglichst auf Null gebracht werden. „Victory is possible“ – so das US-Motto. Ein Wahnsinn.

Sowjetische Abrüstungsvorschläge lehnte die NATO ab. Letztlich scheiterten die Verhandlungen an der Weigerung der NATO, die Nuklearwaffen Frankreichs und Großbritanniens in die Rechnung einzubeziehen. Im Bundestag wurde am 22.11.83 abgestimmt: alle Raketen kamen binnen zwei Jahren nach Deutschland. Mit Gorbatschow begann im März 85 ein neuer Verhandlungsmarathon, der 1987 zum INF-Vertrag führte.

Er verbot dauerhaft beiden Seiten eine gesamte Waffenkategorie weltweit: Bodengestützte Waffen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 km und ihre Trägersysteme, egal ob konventionell oder nuklear bestückt, durften nach ihrer Verschrottung nicht wieder aufgestellt werden. Es gab eine Kündigungsfrist von einem halben Jahr. Von dieser machte Donald Trump 2019 Gebrauch, um künftig neue Mittelstreckenwaffen an Land in Deutschland und weltweit aufstellen zu können.

Auch 2019 wurde der PershingII-Hersteller Lockheed Martin mit der Entwicklung einer Hyperschallrakete beauftragt. Sie soll wesentliches Element eines neuen US-Operationskonzepts werden, das 2017, also weit vor dem Ukrainekrieg, entwickelt wurde: Die Multi-Domain-Operations. Das Konzept zielt mittels eines Waffenmixes aus Mittelstreckenraketen, verbunden mit KI darauf ab, Russland und China dauerhaft unter Stress und Überforderung zu setzen. Fünf Multi-Domain-Task-Forces wollen die USA bis 2028 aufstellen, drei davon sind gegen China gerichtet, eine gegen Russland. Letztere kommt nach Deutschland. So haben es Scholz und Biden im Juli letzten Jahres beschlossen. Verhandlungen sind ausgeschlossen. Die Präsidenten Russlands und Chinas haben die präzisen Hyperschallwaffen als Enthauptungsschlagwaffen charakterisiert. Putin sprach vom „Messer am Hals“, wenn diese im neuen NATO-Mitgliedsland Ukraine aufgestellt würden. Ist das einer der Kriegsgründe gegen die Ukraine?

Scholz und Biden begründeten ihre Entscheidung damit, Russland von einem Angriff auf Europa abzuschrecken. Ihre unbewiesene Unterstellung: Russland habe heimlich Iskander-Raketen entwickelt, dadurch den INF-Vertrag gebrochen, und bedrohe damit Europa. Also wieder die Geschichte wie vor über 45 Jahren: Aufrüstung hier, um Russland zur Abrüstung zu zwingen. Dabei wird an Iskander in Kaliningrad gedacht. Aber die US-Raketentypen verfolgen weitergehende Ziele. Von Grafenwöhr in Bayern sind es 800 km bis Kaliningrad.

Die drei US-Waffen fliegen viel weiter: Die Rakete SM6 schafft 1.600 km, die Marschflugkörper 2.500 km und die Dark Eagle sogar 3.700 km. Sie bedrohen nicht nur den russischen Präsidenten, sondern russische Interkontinentalraketen und russische Frühwarnradare. Nach ihrer Stationierung hier würden die Spannungen mit Deutschland drastisch steigen. Denn sie werden nur hier aufgestellt und hier ist ihre Kommandozentrale. Russland hat für den Fall militärische Gegenmaßnahmen angekündigt und mit der nicht abfangbaren Oreschnik ein probates Mittel, um hierzulande auch präventiv zu treffen.

Die Produktion der Dark Eagle läuft im Rahmen eines US-Schnellbeschaffungsprozesses planmäßig. Nach erfolgreichen Tests bis Jahresende soll die Flugzulassung der Rakete samt Gleitflugkörper erfolgen, so dass laut Zeitplan die Stationierung in Deutschland im Zeitraum vom 1.7. bis 30.9.26 erfolgt. Die Zeit ist knapp. Deshalb ist der Berliner Appell dringender denn je. Sein Kernsatz lautet: „Wir sagen Nein zur Aufstellung neuer US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland!“ Sammeln wir verstärkt Unterschriften! Ich hoffe, ihr seid dabei.

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Lühr Henken, ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag (www.Friedensratschlag.de), Mitglied des Personenbündnisses Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder (https://nie-wieder-krieg.org/), Herausgeber der Kasseler Schriften zur Friedenspolitik (https://jenior.de/produkt-kategorie/kasseler-schriften-zur-friedenspolitik/ ) und arbeitet mit in der Berliner Friedenskoordination (http://www.frikoberlin.de/ )